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„Dich meinen wir nicht, wir meinen die anderen.“

Nach einer persönlichen Begegnung und den intensiven Debatten rund um das Thema Migration im Bundestagswahlkampf hat unsere Kollegin Renata Delic, Programmbereichsleiterin Deutsch & Integration, einen bewegenden Text verfasst und teilt mit uns ihre wertvollen Gedanken.


„Dich meinen wir nicht, wir meinen die anderen.“ 
 

Ich habe es satt. Es scheint, als gäbe es in diesem Land nur ein einziges Problem: Migrantinnen und Migranten. Alles dreht sich darum. Als wären all die anderen Herausforderungen – marode Schulen, ein überlastetes Gesundheitssystem, der Fachkräftemangel, soziale Ungleichheit – nebensächlich. 

Liebes Deutschland,
vor 33 Jahren kam ich zu dir. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina zwang mich fort – fort von meinen über alles geliebten Eltern, von meinen Freundinnen und Freunden, meinem Zuhause, meiner Schule. Du hast mich aufgenommen, hast mir Schutz gewährt – doch nur auf Zeit. Jahre des Bangens, der Angst, der Unsicherheit folgten. Erst nach langem Warten hatte ich den deutschen Pass – ein Dokument, das so viel bedeutet und doch so wenig verändert hat.

Ich fühle deutsch, ich denke deutsch, ich träume deutsch. Und doch reicht es nicht. Wie viel „deutscher“ muss ich sein, um eine von euch zu werden? Ich zahle Steuern, engagiere mich, habe deutsche Freundinnen und Freunde, meine Kinder sind hier geboren – sie sind deutsch. Doch wenn das Gespräch auf Migration kommt, höre ich oft: „Dich meinen wir nicht, wir meinen die anderen.“ Wen denn? Die Türken in vierter Generation? Die Krankenpflegerin aus Polen? Den syrischen Bäcker um die Ecke?

Was ist bloß los mit dir, Deutschland? Du brauchst uns, aber du willst uns nicht. Was jetzt? Vielleicht sollten wir wirklich alle gehen. Einmal sehen, was dann passiert – in den Krankenhäusern, auf dem Bau, in den Schulen, im öffentlichen Dienst, in den Supermärkten, in den Pflegeheimen. Manchmal träume ich davon, dass genau das geschieht. Nur damit du endlich begreifst, dass wir einander brauchen. Dass wir nur gemeinsam stark sind.

Sicherheit für wen?

Sicherheit. Immer geht es um Sicherheit. Heute, beim Besuch im italienischen Restaurant, höre ich meinem Tischnachbarn zu. Deutsche Erbgeneration. Stolz zeigt er Fotos seines frisch renovierten Hauses in Südafrika. Im nächsten Atemzug klagt er über die Unsicherheit in Stuttgart, fürchtet um seine teure Uhr auf dem Schlossplatz.

Nun, liebe Erbgeneration – ihr bangt um eure Uhren. Und was ist mit unserer Sicherheit? Denkt ihr manchmal daran, wie viel Angst in uns steckt? Wir, die deutsch mit Migrationshintergrund sind. Zweite-Klasse-Deutsche. Wir, die wir hier Existenzen aufgebaut, Familien gegründet, Wurzeln geschlagen haben. Und was jetzt? Remigration? Deportation?

Wie lange noch, Deutschland?

Mir reicht es. Dieses ewige Wir und Ihr, Ihr und Wir. Wie lange muss ich noch warten, um mich wirklich als Teil dieser Gesellschaft fühlen zu dürfen? Merkt ihr denn nicht, dass gerade so Parallelgesellschaften entstehen – wenn Menschen spüren, dass sie nicht gewollt sind? Warum bewegen wir uns rückwärts in die Zeit der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, als man sie nur als Hände, aber nicht als Menschen sah? Haben wir nichts gelernt?

Ich glaube an dich, Deutschland. Ich glaube daran, dass du lernfähig bist. Dass du in der Lage bist, ein gutes Miteinander zu schaffen. Aber dafür müssen wir endlich anfangen, einander zu vertrauen, zu investieren – nicht in Abgrenzung, sondern in die Menschen, die hier sind und die hier bleiben.

Liebes Deutschland, erkenne: Deine Vielfalt ist deine Stärke.

 

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